Ich gestehe, dass ich den Roman Anna Karenina von Leo Tolstoi nicht gelesen habe und auch nur so grob wusste, um was es geht. Und meistens lese ich auch keine Inhaltsangaben für ein Theaterstück, weil ich mich überraschen lassen will welche Geschichte man mir erzählt. Und nicht schon eine im Kopf haben will, die dann vielleicht nicht mit der Geschichte auf der Bühne zusammenpasst.
Perfect match, quasi, als ich letztens im Theater Konstanz war. Dort wird nämlich gerade Anna Karenina gespielt – und es lohnt sich ein Besuch. Zwei sehr intensive Stunden erwarten euch, eine Achterbahn der Gefühle und Befindlichkeiten.
Es war das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass ich wieder in einem fast voll besetzten Theater saß. Das war ein sehr seltsames Gefühl. Schön, intensiv, aber seltsam. Es war eine ganz andere Energie im Raum. Am Ende hat man gemerkt, dass es auch für die SchauspielerInnen auf der Bühne anders war als zuletzt.
Worum geht’s?
Um die Liebe. Bitte, danke, gehen Sie weiter. Im Kern dreht sich die Geschichte um drei Paare aus der adligen Oberschicht Russlands, deren Beziehungen und die Liebe. Und um Zeitgeschichte und Gesellschaftsformen. Das Stück spielt im 19. Jahrhundert und so sind natürlich Moral und die Bedeutung der Ehe noch anderen Standards unterworfen als heute. Das adlige Russland des 19. Jahrhunderts bietet somit die Bühne für die Lebensgeschichten der Protagonisten, deren Verhalten und Gebaren nicht unabhängig davon gesehen werden können.
Im Mittelpunkt steht natürlich die namensgebende Anna Karenina, die Frau von Alexej Karenin, mit dem sie den Sohn Sergej (genannt Serjoscha) hat. Annas Mann Alexej ist ein braver, etwas farbloser ranghoher Beamter, dem seine Reputation und sein Stand in der Gesellschaft wichtiger ist als sein Glück und das seiner Familie. Annas Bruder, Fürst Stepan, ist ein Hallodri, der jedem Rock hinterhersteigt. Seine Frau Darja, genannt Dolly, hat die Faxen dicke und will sich scheiden lassen. Auf Annas Rat hin, gibt sie der Ehe jedoch nochmal eine Chance, was zur Rettung der Ehe führt. Anna reist extra nach Moskau, um Dolly und Stepan ins Gewissen zu reden. Gemeinsam mit Kitty geht sie dort auf einen Ball.
Dollys Schwester Jekaterina, genannt Kitty, lehnt den Heiratsantrag von Konstantin Ljewin ab. Sie hat ein Auge auf den feschen Graf Alexej Wronski geworfen, ein Oberst und Großgrundbesitzer, der jedoch von Kitty so gar nichts will – im Gegenteil. Als Anna und Alexej Wronski zufällig bei dem Ball aufeinandertreffen, verliebt er sich sofort in die schöne Anna. Seit die beiden auf einem Bahnsteig ist es endgültig um Wronski geschehen. Dolly macht ihrer Schwägerin heftige Vorwürfe und Anna versucht sich anfangs gegen ihre Gefühle für Wronski zu wehren. Schließlich ist sie ja mit Karenin verheirat – und das doch glücklich. Oder?
Wronski kann nicht mehr ohne Anna leben und folgt ihr fortan, auch zurück in ihre Heimat St. Petersburg. Anna kann ihm nicht mehr widerstehen und so werden sie ein Liebespaar. Dies wiederum stürzt Kitty in eine tiefe Krise, nach einer Kur findet sie mit Ljewin zusammen und sie planen ihre Hochzeit.
Die Affäre zwischen Anna und Wronski wird tiefer und auch Karenin kann seine Augen nicht mehr davor verschließen – er verbietet seiner Frau den Kontakt zum gemeinsamen Sohn. Darunter leiden alle Personen.
Wronski will eine Legitimierung der Beziehung, aber Anna befürchtet ihren Sohn endgültig zu verlieren, wenn sie sich scheiden lässt. Schließlich stimmt sie aber doch zu. Doch Anna und Wronski müssen erkennen, dass sie sich nicht mehr genügen, dass der Alltag auch ihrer Beziehung zusetzt und die Position als Ausgestoßene ihren Teil zu den Problemen beiträgt. Annas Gesundheit leidet immer stärker und sie verliert sich in Wahnvorstellungen. Sie ist eifersüchtig auf nicht vorhandene Nebenbuhlerinnen und in ihr reift der Plan Wronski durch ihren Suizid zu bestrafen. Sie wirft sich vor einen Zug und wiederholt so die Situation, in der Wronski und sie damals auf dem Bahnsteig aufeinandergetroffen sind. Der Oberst Wronski zieht in den Krieg, weil sein Leben ohne Anna keinen Sinn mehr hat.
Ziemlich lange Geschichte mit einigen Wendungen, oder? Aber das ist das Grundgerüst der Handlung, die das Theater Konstanz in ca. 2 Stunden auf die Bühne bringt. Und es gelingt der Inszenierung trotz aller Wendungen, Irrungen und Wirrungen die drei Erzählstränge so gut miteinander zu verweben, dass man der Geschichte immer folgen kann.
Kristina Lotta Kahlert gibt der Zerrissenheit und Emotionalität der Anna Karenina eine solche Tiefe, dass man die gesamte Zeit mitleidet mit der schönen Adligen. Ingo Biermann spielt den spröden distanzierten Beamten so überzeugend, dass man fast schon Mitleid mit der Figur hat. Mitleid hat man auch mit dem Sohn Serjoscha (ebenfalls Ingo Biermann). Thomas Fritz Jung und Tülin Pektas geben das zerrissene und doch verbundene Pärchen, das trotz dekadentem Leben ganz alltägliche Probleme hat, sehr eindrücklich.
Schön ist es dabei zuzusehen wie Kitty (Pauline Werner) und Ljewin (Ioachim-Wilhelm Zarculea) langsam zusammenwachsen. Die anfangs trotzige Kitty findet schließlich mit dem gemütlichen Ljewin ihr Glück. Das einzige Pärchen auf der Bühne, das glücklich wird.
Das zweigeteilte Bühnenbild unterstreicht immer wieder die Suche nach dem Sinn und diese Sehnsucht, die alle Figuren treibt. Im hinteren Teil tobt das Leben, die Parties und das vermeintlich leichte Leben ziehen alle in den Bann. Auch wenn sie dort ihre Einsamkeit nicht immer überdecken können. Im vorderen Teil geht’s nüchterner zu, hier werden Dramen besprochen, Lösungen versucht zu finden und zarte Bande geknüpft.
Das Zerbröckeln und Fragilität der Beziehungen aller Personen untereinander ist ganz wunderbar vorgestellt in dieser Inszenierung, und hinterlässt beim Publikum (zumindest bei mir :-)) das Gefühl doch mal wieder genauer hinzuschauen. In sich selbst, in die Vorstellungen von Glück (die eigenen und die der Gesellschaft), in die Beziehungen zueinander und zu sich selbst. Achtsamer zu sein und der Sehnsucht nachzuspüren.
Mir hat die Inszenierung „Anna Karenina“ am Theater Konstanz wirklich gut gefallen und ich finde:
Angucken lohnt sich!
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“